Briefe - und Dokumente - aus Kötztings Vergangenheit
Mehrere Zufälle kamen da zusammen, die zu diesem ganz besonderen Blogbeitrag führten, der noch dazu auch noch weiter ausgebaut werden wird.
Shelly Feder, ein Nichte der gebürtigen Kötztingerin Susanne Kirschner, und ihr Mann Elli verwalten einen ganz besonderen Schatz. Es sind Briefe und Unterlagen aus dem familiären Umfeld der Familien Klein, Kirschner und Freiwirth, die uns im nachhinein kleine Lebensbilder übermitteln und später sogar von verzweifelten Versuchen und Rückschlägen berichten, die sich passgenau in die überlieferten Schicksale dieser Kötztinger Familien einfügen.
Shelly Feder, mit der ich bereits seit Jahren in Kontakt stehe, hatte begonnen, Briefe aus ihrer familiengeschichtlichen Sammlung, die Kötzting betreffen, auszusortieren und mir mehrere davon zum Korrekturlesen geschickt, da das automatische Transkript durch eine AI nicht zu nachvollziehbaren Resultaten geführt hatte.
Da, und das ist der zweite Ansatz, ich bereits seit Jahren im
Bayerischen Landesverein für Heimatkunde und dort beim Netzwerk "
jüdisches Leben in Bayern" interessiertes Mitglied bin, ist es nun der nächste Schritt, solche einzelnen Briefe und Dokumente in den historischen Zusammenhang der Abläufe in Kötzting - und parallel dazu in Palästina und sogar in England - zu bringen. In der Datenbank des Landesvereins werden die Beiträge über die beiden Kötztinger Familien Kirschner (Freiwirth) und Hahn demnächst ebenfalls verlinkt werden.
Hier nun zuerst das Transkript eines ersten Briefes von Alice Kirschner an ihren Bruder Dr. Klein, der bereits 1933 nach Palästina ausgewandert gewesen war und in den folgenden Jahren der Dreh- und Angelpunkt für viele der verzweifelten und verzweifelnden Mitglieder dieses Familienverbandes werden sollte. Johanna Aloysia Klein, genannt Alice, - aus einer Kaufmannsfamilie in Tirschenreuth stammend - hatte 1927 den Kötztinger Kaufmannssohn Julius Kirschner geheiratet. Sie bekamen zwei Kinder, zuerst die Tochter Susanne und danach noch den Sohn Alfred.
Schrittweise ab dem 1.4.1933 war es für unsere Kötztinger jüdischen Mitbürger jedoch immer schwieriger geworden, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern.
Julius Kirschner, Kötzting
Postscheckkonto Nürnberg 12415 Telefon 67
Den 11./7./1936
Meine Lieben
Ich danke Euch herzlichst für Eure lb. Zeilen, die mir nach Treuth (=Tirschenreuth) nachgeschickt wurden. Ich war 3 1/2 Wochen dort. In dieser Zeit haben sich nicht nur die Kranke, sondern auch die andern sichtlich erholt. Es ist aber bei Gott nicht mein Verdienst, aber dadurch, dass ich gekocht habe, brauchten Siddi und Frieda sich nicht abhetzen. Frieda wurde ruhiger und das wirkte beruhigend auf Betty. Da Gretl ab 1.7. die Firma verlassen hat, ist Frieda nicht mehr so abkömmlich im Geschäft und ein Geschäftshaushalt ist halt leider mit einem privaten nicht zu vergleichen. Ich habe aufregende Wochen hinter mit. Am 2. Shawuottag bekam Alfred plötzlich Leibschmerzen und erbrach und am nächsten Tag musste ich ihn operieren lassen, keine Kleinigkeit hier in diesem Dorf, wo eine Operation selten vorkommt, aber es war zu spät irgend wohin zu fahren. Der Arzt machte seine Sache gut und die Schwestern

im Krankenhaus rührend besorgt. Ich war Tag und Nacht bei meinem Buben und ich brauch nur an die Nacht vor der folgenden aufregenden Operation zu denken, dann weicht jedes mal das schwindliche Gefühl, das mich ergreift, wenn ich an die Höhe der Dr. Rechnung denke. Ich bin durch meine Operation an Zahlen gewöhnt, aber dass ein Landarzt noch besser rechnen kann. Ich weiß, was du sagen willst, lb. Ludwig, und ich bin auch dankbar, dass mir mein Bub wieder geschenkt wurde, aber es ist mal so, es muss immer was daher kommen, dass man nicht aufatmen kann. Nun muss ich schauen, dass Alfred wieder zu Fleisch kommt. Er sieht nicht gut aus und isst nicht schön. Ich muss auch wieder an Paula denken. Es ist so schmerzlich, wenn sie einem ansieht mit ihren schönen Augen und man weiß, sie werden sich bald für immer schließen. Und dann die Meldungen aus Palästina. Nicht nur die Gefahr in der wir euch oft wähnten, auch die Überzeugung, dass die viele Arbeit, Mühe und Hoffnungen stündlich zunichte gemacht werden ist so bedrückend. Was soll nun werden? Wird denn der Streik kein Ende nehmen, soll die ganze Wirtschaft zu Grunde gehen, werdet ihr durchhalten können, das sind die Sorgen, die uns ständig peinigen und unsere Willenskraft aufreiben. Die Hauptsache, dass die Kinder davon nichts ausgehen(?). Wir haben hier einen ganz verregneten Sommer. Hoffentlich bessert es sich bald, denn die Ferien haben begonnen und meine Kinder brauchen dringend Sonne. Susi schwimmt schon gut. Sie wird ein richtiges Sportmädel. Nur ihre Nasen machen mir Sorgen. Ich fürchte sie werden so durch die Nase sprechen wie Julius. Ich habe sie schon oft untersuchen lassen. Es ist keine Wucherung da, nur Alfred hat hinterm Trommelfell eine starke Wucherung.
Im Geschäft ist es ruhig. An den Rohprodukten bleibt nicht viel. Die Schesen(?) sind zu groß. Ihr braucht mir nicht extra zu schreiben. Frieda schickt mir gewissenhaft Eure Schreiben, aber lasst dorthin öfter hören. Ihr wisst in welcher Unruhe wir sind und nun lebt wohl, bleibt gesund, meine Innigstgeliebten und seid innigst geküsst von eurer Alice
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Alice Kirschner, geb. Klein |
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Dr. Ludwig Klein |
Alice Kirschner, geb. Klein heiratete 1927 Julius Kirschner Kinder: Susanne * 1928 Alfred * 1930 Alice wurde zusammen mit ihrem kleinen Buben Alfred, am 13.6.1942 von Berlin aus nach Majdanek deportiert.
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Dr. Ludwig Klein heiratete Friedl Braun Kinder: Fritz >>>>>> der Vater von Shelly Feder Micha Die ganze Familie wanderte 1933 nach Palästina aus und wurde zum festen Ankerpunkt für die ganze Großfamilie trotz all der Schwierigkeiten, die sie alle in vielen Jahrzehnten in Palästina durchzumachen hatten.
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Den Brief schrieb Alice Kirschner aus Kötzting - nach ihrer Rückkunft von Tirschenreuth - an ihren Bruder Ludwig in Tel Aviv.
In Tirschenreuth lebten damals noch zwei Schwestern der beiden. Die todkranke Schwester Paula - verheiratet mit dem Inhaber des elterlichen Geschäfts Max Pick - und deren ledige Schwester Frieda. Das Ehepaar Pick hatte zwei Töchter Siddy und Betty.
Die im Brief erwähnte schwerkranke Paula (Klein, verh. Pick) verstarb nur wenige Wochen nach diesem Brief, am 13.8.1936 in Tirschenreuth, mit gerade mal 47 Jahren.
Die zweite Schwester, Frieda, wurde nun die Betreuerin der beiden Mädchen. Siddy konnte später ebenfalls nach Palästina entkommen, Betty wurde im Juni 1942 von Berlin aus nach Osteuropa deportiert, wo sie in Majdanek umkam.
Mehrere Kleinigkeiten aus dem Brief sind es wert, genauer hinzuschauen:
Alice spricht vom 2. Tag Schawuot.
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Am 2. Sch´wuo?tag |
Ich konnte das Wort nicht nur nicht genau entziffern sondern hatte auch überhaupt keine Ahnung, was sich dahinter verbergen könnte. Bei allen den vielen Beleidigungen und Unverschämtheiten, die man so in Facebook täglich lesen kann, gibt es dort doch Räume, in denen freundlich und hilfreich miteinander umgegangen wird und solche Bereiche sind zum Beispiel die verschiedenen Familienforschungsgruppen. In der Gruppe "Tracing the Tribe", einer FB -Gruppe für jüdische Genealogie hochgeladen, bekam ich bereits nach wenigen Minuten die Lösung präsentiert: es ist der Schawuot-Feiertag und zusätzlich bekam ich noch den HInweis, dass dies im Jahre 1936 der Donnerstag, der 28. Mai, gewesen sei.
In Wikipedia findet sich dazu die folgende Erklärung:
Die Festtage, die im Judentum als hebräisch ימים טובים jamim towim, deutsch ‚gute Tage‘ ‚Festtage‘ bezeichnet werden, sind halachisch (laut jüdischem Religionsgesetz) so definiert:
Die sechs Tage, an denen die Tora Arbeitsverbot gebietet, sind der erste und der
siebte Tag des Pessachfestes, der erste und der achte Tag des Laubhüttenfestes
(Sukkot), das Wochenfest (Schawuot) sowie der erste Tag des siebten Monats
(Rosch ha-Schana). Diese Tage werden als Feiertage (Jamim towim) bezeichnet.[1]
Schawuot ist also einer der Festtage, an denen die Tora ein Arbeitsverbot gebietet.
Das nächste ist die Passage im Brief, die von einer schwierigen Situation und einem Streik in Palästina - damals ein britisches Protektorat - spricht und auch dazu gibt es einen Hintergrund:
Ereignisse in Palästina 1936 (kopiert von Al Gemini)
Das Jahr 1936 war ein entscheidendes und turbulentes Jahr im britischen Mandatsgebiet Palästina, geprägt vom Beginn des Arabischen Aufstands, einer großen Revolte der palästinensischen Araber gegen die britische Mandatsregierung und die wachsende jüdische Bevölkerung (die Yishuv).
Hier sind die wichtigsten Ereignisse des Jahres 1936:
- Beginn des Großen Arabischen Aufstands: Der Aufstand begann offiziell im April mit einer Reihe gewalttätiger Zwischenfälle und einem Aufruf arabischer Politiker zu einem landesweiten Generalstreik. Auslöser war die Ermordung zweier jüdischer Männer durch eine arabische Gruppe, woraufhin jüdische Bewaffnete zwei arabische Arbeiter töteten. Diese Ereignisse eskalierten zu weit verbreiteten Unruhen und Gewalttaten.
- Der Arabische Hohe Ausschuss: Als Reaktion auf die wachsenden Unruhen gründeten arabische politische Parteien im April 1936 den Arabischen Hohen Ausschuss (AHC) unter dem Vorsitz des Großmuftis von Jerusalem, Hajj Amin al-Husseini. Die Ziele des AHC waren die Beendigung der jüdischen Einwanderung, das Verbot des Verkaufs von Land an Juden und die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit Palästinas. Sie organisierten und koordinierten den Generalstreik und andere Protestaktionen.
- Der Generalstreik: Im Mai wurde ein Generalstreik arabischer Arbeiter, Ladenbesitzer und Transportunternehmer ausgerufen, der bis Oktober andauerte. Er war ein wichtiger Bestandteil des Aufstands und sollte wirtschaftlichen und politischen Druck auf die britischen Behörden ausüben. Der Streik führte zwar zu erheblichen Störungen, wurde aber schließlich abgebrochen. Eskalation der Gewalt: Im Laufe des Jahres 1936 entwickelte sich der Aufstand von organisierten Protesten und Streiks zu einem bewaffneten Konflikt. Arabische Rebellen, oft angeführt von Bauern, griffen jüdische Siedlungen, britische Militär- und Polizeieinrichtungen sowie die Infrastruktur an. Die Briten reagierten mit harter Hand, unter anderem mit dem Einsatz von Streitkräften und Kollektivstrafen.
- Die Peel-Kommission: Angesichts der eskalierenden Gewalt setzte die britische Regierung eine königliche Untersuchungskommission unter der Leitung von Lord Peel ein, um die Ursachen der Unruhen zu untersuchen. Die Kommission traf im November 1936 in Palästina ein, um Aussagen sowohl arabischer als auch jüdischer Führer anzuhören. Ihre 1937 veröffentlichten Ergebnisse waren ein Meilenstein, da die Kommission zu dem Schluss kam, dass die widersprüchlichen nationalen Bestrebungen der beiden Gemeinschaften unvereinbar seien, und die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat empfahl.
Der nächste Brief aus der Hand von Alice Kirschner, der sich erhalten hat, stammt vom Dezember 1937 und lässt uns hineinblicken in den Alltag der Familie Kirschner im Winter in Kötzting:
Es ist tröstlich, daraus zu entnehmen, dass bei aller Bedrückung, die von Seiten der NSDAP sich von Jahr zu Jahr aufgebaut hatte, - und ihren Kötztinger Höhepunkt mit dem Zwangsverkauf des Hauses in der Marktstraße und der damit erzwungenen Vertreibung ´hinaus aus Kötzting hatte - es den Kindern offensichtlich noch möglich gewesen war, Kinder zu sein, Freunde zu haben und ein Instrument zu lernen.

Meine Lieben
heute will ich mich auch mal zu einem ausführlichen Brief aufraffen. Ich freue mich unendlich, dass ihr meine Sendungen pünktlich bekommt. Habt ihr auch die Schwammerl erhalten? Ein mir nicht gut gesinnter Beamter wollte sie mir nicht als Mustersendung behandeln und als Paket rentiert es sich nicht, weil ich erstens nicht soviel hatte und 2. was würdet ihr mit einem Postkoli (=österreichisch für ein Postpaket) getrockneter Schwammerl anfangen. Eure letzten Briefe waren etwas zuversichtlicher. Recht herrlichen Dank für Eure guten Wünsche zu meinem Geburtstag. Geschäftlich geht es mit etwas besser. Durch die festen Preise sind weniger Warenverluste, höchstens bei Konfektion und dann habe ich mein Lager verkleinert und dadurch weniger Schulden. Wenn ich nur die Banken weg hätte. Julius hat mit den Rohprodukten - Häuten - zu tun und ist viel mit dem Auto fort. Auf der Straße nach Viechtach in einer Kurve musste er einem Fuhrwerk ausweichen und dabei ist das Auto auf der vereisten Straße ins Rutschen gekommen und kopfüber in den Straßengraben, so dass der Wagen auf dem Kopf stand. Gott sei Dank ist nichts passiert, weder ihm noch dem Wagen. Julius ist noch nicht zurück. Zwei Burschen haben mir die Nachricht gebracht. So geht es halt. Julius wünscht sich den Sommer herbei und die Kinder Schnee und Eis. Alfred ist lustig und fidel. Zu Ostern kommt er in die Schule. Hoffentlich bekommt er einen guten Lehrer. Susi ist ebenso geneigt

"hat immer eine Menge Freundinnen, ein Zeichen, dass sie anpassungsfähig ist. Beim Sport hat sie nicht soviel Schneid wie Alfred außer beim Schwimmen, wahrscheinlich auch nur solang sie Boden unter den Füßen hat. Zurzeit lernt sie Zitherspielen. Als ich Weihnachten daheim war, nahm ich die Zither mit, zu einem Klavier bringe ich es doch nie und man weiß ja nicht, ob Susi mehr Talent hat als ihre Basen. Also probiere ich es mit der Zither. Ein hiesiger Bürger und eifriger Markensammler bat Julius um Fritzls Adresse. Er will dir eine Sammlung schöner Trachtenmarken zur Ansicht schicken, von denen du behalten kannst was du willst und sollst ihm von dort Markten schicken. Er hat überall Beziehungen nur nicht nach Palästina. Ich habe ihm deine Adresse noch nicht gegeben, weil ich nicht weiß ob es dir angenehm ist. Sammelst du Steine? Ich habe nämlich einen Stein mit einer Schicht Asbest. Hier kommt nämlich Asbest vor, aber die Schicht ist zu dünne, dass eine Ausbeutung lohnt. Ist es wieder wärmer geworden bei euch? Liebe Friedl, du machtest in einem deiner letzten Briefe Andeutungen, als wenn sich Eure Lage bessern würde und schriebst seither nichts mehr davon in deinen Briefen. Ist es geschäftlich oder hast du, lieber Ludwig, Aussicht auf eine Stellung? Meine Gedanken weilen immer bei euch, wenn ich auch nicht schreibe. Ich hatte schriftliche Arbeit. Die Inventur war ins Reine zu bringen. Nun bin ich mit den Büchern nach. Morgen kommt die Flickerei dran. Nächste Woche habe ich große Wäsche. So vergeht die Zeit mit Geschäft und Haushalt. Anbei eine Aufnahme. Leider gibt es in Kötzting zur Zeit keinen Schnee, nur auf den Bergen. Soeben ist Julius zurückgekommen. Das Auto ist etwas beschädigt, aber sonst ist noch alles gut abgelaufen. Seid alle herzlichst geküsst von Eurer Alice.
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